GEHORCHE KEINEM

Wann immer ich die Stufen zur Universitäts- und Landesbibliothek hinaufsteige, wird mein Blick unwillkürlich von den Worten „GEHORCHE KEINEM“ eingefangen. In großen roten Buchstaben ist dieses Kunstwerk des Künstlers Babak Saed an das Gebäude montiert. Natürlich steckt ein Augenzwinkern in solch einer Installation, wenn sie sich gerade an Münsters größter Schatztruhe wissenschaftlicher Überlieferung befindet. „Die Fähigkeit zur kritischen Nutzung von Informationen sollte zum Handwerkszeug junger Menschen gehören“, erläutert Saed. Wissenschaftler und Studierende sollen „die Offenheit besitzen, den Blickwinkel zu ändern, einmal erlernte Regeln in Frage stellen und durch deren Bruch Neues entstehen lassen“. Das ist sozusagen meine Welt und mein Umgang mit ihr.

Daher war ich sehr irritiert, in einem Leserbrief über unsere Gemeinde St. Stephanus vom 1.04.2022 in den Westfälischen Nachrichten folgende Worte zu lesen: „Wofür soll der Bischof sich entschuldigen? Der zukünftige Priester wird bei seiner Weihe vom Bischof gefragt: ‚Versprichst du mir und meinem Nachfolger Ehrfurcht und Gehorsam?‘ Er kniet dabei vor dem Bischof, seine Hände liegen in den Händen des Bischofs, und der zukünftige Priester gibt dem Bischof dieses Versprechen.“ Nicht, dass mir dieses Gelöbnis des Gehorsams nicht bekannt ist – aber dass es immer noch Menschen gibt, die es unkritisch befürworten, bringt mich an die Grenzen meines Fassungsvermögens.

In Europa herrscht aktuell Krieg. Davor kann man die Augen nicht verschließen. Unwillkürlich denke ich beim Wort ‚Gehorsam‘ daher an das Lied „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ von Reinhard Mey. Dort heißt es u.a.:

„Ich werde sie den Ungehorsam lehren
Den Widerstand und die Unbeugsamkeit –
Gegen jeden Befehl aufzubegehren
Und nicht zu buckeln vor der Obrigkeit!
Ich werd‘ sie lehr‘n, den eig‘nen Weg zu gehen
Vor keinem Popanz, keinem Weltgericht
Vor keinem als sich selber g‘radzustehen!
Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht.
Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht.“

Das Musikvideo kommt immer mit einer großen Wucht auf mich zu. Die Musik erschlägt mich fast. Die Bilder sind intensiv. Aber es ist nicht allein die Kunst, die hier wirkt. Das Video wirkt vor allem, weil hier über die Wirklichkeit gesungen wird. In Europa müssen gerade Menschen vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine fliehen. Männer werden in den Krieg gezogen – auf beiden Seiten.

„Sie werden nicht in Reih' und Glied marschieren,
nicht durchhalten, nicht kämpfen bis zuletzt,
auf einem gottverlass’nen Feld erfrieren,
während ihr euch in weiche Kissen setzt.“

So heißt es weiter im Lied. Aber gerade müssen wieder Männer in Reih und Glied marschieren und durchhalten und kämpfen bis zuletzt, weil jemand es ihnen befiehlt. Der oberste Befehlshaber Putin hingegen sitzt in weichen Kissen und kümmert sich nicht um das Schicksal dieser Menschen, um die Familien, die Zuhause warten, um die Angst und um das Leid der Einzelnen. Auf diese Weise hört ein Soldat im Krieg eigentlich auf, Mensch zu sein. Er hat Gehorsam zu leisten, wird zur Tötungsmaschine degradiert und als solche eingesetzt. Vor diesem Hintergrund kann ich gar nicht anders, als über das Konzept des Gehorsams den Kopf zu schütteln.

Schon der zweite Weltkrieg sollte gezeigt haben, wie entscheidend es ist, unbeugsam zu sein, gegen die Machthaber aufzubegehren, die vielen Angriffe gegen die Menschlichkeit nicht schweigend hinzunehmen. Nur wenn alle auf ihrer jeweiligen Position mitmachen, kann ein hierarchisches System wie das faschistische Erfolg haben. Ich denke hier an einen Aufsatz von Hannah Arendt mit dem Titel „Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?“. Nähmen wir Gehorsam als Tugend, würden wir ein System aus Herrschern und Beherrschten voraussetzen. Erstere befehlen, Letztere gehorchen. In politischen und moralischen Angelegenheiten lehnt Hannah Arendt aber jeden Gehorsam ab und steht für Selbstverantwortung ein. Sie kann sich niemals herausreden, ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein, wie es nach dem zweiten Weltkrieg so oft geschehen ist. Ich erinnere hier nur an Adolf Eichmann.

Dass ähnliche hierarchische Systeme mit großer Zerstörungskraft auch in der Gegenwart zu finden sind, lässt sich an der katholischen Kirche zeigen. Nicht nur ist die systematische Vertuschung der Missbrauchsfälle durch Priester ein Beweis dafür, wie erfolgreich Verbrechen durch dieses System ermöglicht und gedeckt wurden. Man findet bereits bei der Frage, inwieweit Gemeindemitglieder in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden, durchschlagende Hinweise auf einen Machtapparat, der nach dem Muster ‚Befehl und Gehorsam‘ funktioniert. In seiner Silvesterpredigt von 2020 hat Bischof Felix Genn sich gefragt, wo die Grenzen der Selbstbestimmung in der Kirche seien und ob die Gläubigen damit leben könnten, in einer echten Diskussion alle eigenen Argumente benannt zu haben „und dennoch die Entscheidung derer anzunehmen, die Entscheidungen zu fällen und die Verantwortung dafür zu tragen haben“. Nach den Erfahrungen, die unsere Gemeinde St. Stephanus mit den Entscheidungen des Bischofs gemacht hat, läuten bei mir die Alarmglocken, wenn ich solche Worte lese. Natürlich gab es bei uns keine echte Diskussion mit der Bistumsleitung. Unsere Argumente wurden auch nicht in die Entscheidung miteinbezogen. Sie wurden vielmehr erst gar nicht angehört und als wir uns lautstark gemeldet haben, trotzdem ignoriert. Die Bistumsleitung hat ihre Entscheidung im stillen Kämmerlein gefällt, ohne Rücksicht auf diejenigen Menschen zu nehmen, die von den Folgen der Entscheidung betroffen waren und sind. Das war keine Entscheidung, durch die eine Not gewendet wurde, sondern eine Entscheidung, durch die viel Not entstanden ist. Wir sollten sie akzeptieren, weil man es nunmal akzeptieren soll, dass der Bischof Entscheidungen über uns allein trifft. Er ist der Bischof und wir sind irrelevant, wenn es um Dinge geht, die uns betreffen. Wir haben zu gehorchen. Und wenn wir aufstehen und auf die Straße gehen, wenn wir unseren Unmut über diese Entscheidung ausdrücken, werden uns Diffamierungen und Pöbeleien vorgeworfen. Eine unzivilisierte Meute sind wir, weil wir nicht gehorchen wollten.

Zurück zum Ausgangspunkt. Ein Priester gelobt bei seiner Weihe Gehorsam. Es gibt sicherlich Priester, die dieses Gelöbnis sehr bereuen und Priesteramtskandidaten empfehlen, den geplanten Weg noch einmal zu überdenken. In jungen Jahren glaubt man noch an das Gute im Bischof, vertraut ihm, geht blauäugig in die eigene Zukunft innerhalb der katholischen Kirche. Und wenn man immer buckelt, wird man es auf der Karriereleiter sicher auch weit bringen. Wer aber mit den Jahren und mit zunehmender Reife einen kritischen Blick auf dieses System erlangt, dem wird es schwerfallen, den Weg des Gehorsams zu allen Zeiten mit voller Wahrhaftigkeit zu gehen. Auch Priester werden erwachsen und spüren irgendwann selbst, welcher Weg der eigene und richtige ist. Sie spüren, wo und wie sie leben möchten, welche Aussagen des Lehramtes sie mit ihrem Gewissen vertreten können und wo Kritik, Erneuerung oder ein eigener Weg angebracht sind. Der Bischof hingegen kennt das Innere eines Priesters nicht, kann nicht dessen Gewissen ersetzen und Lebensentscheidungen für ihn fällen. Welcher Bischof interessiert sich wirklich für das individuelle Schicksal seines ihm anvertrauten Priesters? Zwar wird ein Priester anders als ein Soldat im Krieg nicht zu einer Tötungsmaschine degradiert, bleibt er aber nicht trotzdem letztlich ein persönliches Nichts, weil sein eigener Wille nicht zählt und er somit nicht selbstbestimmt leben kann? Der Bischof sitzt auf einem weichen Kissen und in seiner feinen Robe in seinem Palast. Seine Kontakte mit der konkreten Wirklichkeit und den konkreten Problemen der Menschen sind begrenzt. Und doch trifft er Entscheidungen, die Gemeinden, Priesterseelen und Gläubige bis in den Grund erschüttern können.

Wenn ein Priester ungehorsam ist, so stellt das nach dem Kirchenrecht eine Straftat dar. „Wer sonst dem Apostolischen Stuhl, dem Ordinarius oder dem Oberen, der rechtmäßig gebietet oder verbietet, nicht gehorcht und nach Verwarnung im Ungehorsam verharrt“, heißt es in Can. 1371, soll mit einer gerechten Strafe belegt werden. Ich weiß nicht, welche Strafen man hier verhängt, muss aber zugeben, dass mir Angst und Bange wird, wenn ich an die Priester denke, die mit einem solchen Druck leben müssen.

Als ich vor kurzem in Berlin war, bin ich zufälligerweise an der russischen Botschaft vorbeigekommen. Gegenüber von ihr haben Menschen den sogenannten „Freedom Square“ errichtet. Kerzen stehen dort, Briefe und Stofftiere liegen aus. Protestplakate sind aufgehängt und den ganzen Tag über stehen Menschen dort, die sich nicht mit dem Krieg in der Ukraine abfinden können. Die Freiheit eines Landes, die Freiheit der einzelnen Menschen ist entscheidend. Dafür muss man sich immer einsetzen. Das gilt auch für die Freiheit der Menschen, die einer Kirche zugehören. Der Philosoph Karl Jaspers kritisiert in seinem Buch „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“ diejenigen Instanzen in der Welt, „die die Vollmacht in Anspruch nehmen, im Namen Gottes zu sprechen. Menschen, durch welches Amt, durch welches Glaubensbekenntnis auch immer, bleiben Menschen, die für uns… nur fälschlich als Gehorsam gegen Gott verlangen, was Gehorsam gegen ihre Position, gegen die Kirche, ein Menschenwerk, wäre.“ „Gott hat uns geschaffen zur Freiheit und Vernunft“, fährt er fort und betont, dass wir uns gerade durch diese Freiheit und Vernunft geschenkt werden und verantwortlich vor einer Instanz sind, „die wir in uns selbst finden als das, was unendlich mehr ist als wir selbst“. Gott geht es um die Befreiung des Menschen zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Das ist natürlich eine Herausforderung, weil der Mensch eigenständig auf dem Weg zur Wahrheit ist und nicht einfach für sich übernehmen darf, was eine Institution wie die katholische Kirche ihm als gegeben oder offenbart vorgibt. Aber wenn er der Gefahr, auf seinem Weg zum göttlich Transzendenten nicht durch vermeintliche Anordnungen Gottes stehen zu bleiben, entgehen möchte, dann sollte er die eigene Freiheit groß machen und sich vom Konzept des Gehorsams befreien.

Der Theologe Karl Rahner betont in seinem „Grundkurs des Glaubens“ sogar, dass Freiheit nicht ein ewiges Umdisponieren ist, sondern ein Unzurückführbares erschafft und damit das einzige Vermögen des Bleibenden und Endgültigen ist. Eine sittliche Tat aus freier Entscheidung lässt in seinen Augen ein Ewiges entstehen. Er nennt Freiheit daher „das Ereignis des Ewigen“, durch die wir selbst Ewigkeit werden. Wo der Mensch sich selbst in Freiheit wagt, sammelt er Zeit in Gültigkeit. Freiheit ist somit unser Weg zu Gott. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass diese Freiheit aus der Liebe geboren werden muss. Wer sein Gewissen durch die Liebe zum anderen Menschen oder zu Gott prägen lässt und sich frei zu einem Leben aus dieser Gewissensprägung entscheidet, der schafft nun bereits Ewiges.

„Wir haben nur dies eine kurze Leben“, heißt es im Lied. Nutzen wir die Zeit, um es sinnvoll zu gestalten! Wer seine Aufgabe findet und sie in Freiheit und Liebe lebt, statt einem Befehlshaber ohne Herz gehorsam zu sein, der vollzieht eine Gottesbeziehung, die Ewigkeit eröffnet. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“, singt Maria im Magnificat über Gott und bezeugt seine Liebe (LK 1,52). Darum ersetze ich das Wort ‚Gehorsam‘ gern durch das Wort ‚Vertrauen‘. Gehorsam setzt immer ein Machtgefüge voraus. Solch ein Machtgefüge ist aber nicht im Sinne Gottes. Vertrauen hingegen findet auf Augenhöhe bzw. auf Herzenshöhe statt. Ein Mensch legt gewissermaßen nach kritischer Prüfung sein Herz in die liebenden Hände eines anderen Menschen, der wiederum ihm sein Herz schenkt. Das ist das Wesen von Vertrauen: das eigene Herz zu verschenken. Liebe setzt hier nun wiederum Freiheit voraus. Das eigene Herz kann man nur aus eigener freien Entscheidung verschenken. Dann lebt man seine eigene Wahrhaftigkeit, verbunden mit einem liebenden Menschen – oder mit dem liebenden Gott. Dem Bischof muss kein Mensch gehorchen. Aber jeder Mensch darf mit offenen Augen und voller Vertrauen in andere Menschen und in Gott den Weg gehen, den das eigene Herz ihm vorschlägt.

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Lichterkette 06.04.2022 21:00

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Kindergottesdienst in St. Stephanus