Ein Backofen voll Liebe

„Den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: Je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben“, lese ich heute Morgen in meinem Kalender. Die Worte stammen von Hermann Hesse und leuchten mir sofort ein. Vielleicht stoße ich mich etwas an der Ausschließlichkeit – „einzig durch die Liebe“ –, aber dass das Leben dank der Liebe Sinn erhält, bezweifle ich nicht. Wenn wir lieben, bejahen wir das Erlebte und das Leben insgesamt. Wir leben nicht nur einfach, sondern wir erleben. Wir nehmen die Wirklichkeit mit voller Aufmerksamkeit und in ihrer Tiefe wahr. Wir spüren, wenn wir lieben, dass wir zum Kern von allem vordringen, dass wir so leben, wie es zum Kern dieser Wirklichkeit passt. Ich weiß schon, dass die Welt komplex und ihre Wirklichkeit nicht immer von Liebe ausgefüllt ist, aber in der Tiefe ist das anders. Das Wesentliche der Wirklichkeit ist nicht gebrochen – ist nicht teilweise Liebe, teilweise Hass, teilweise Gleichgültigkeit. In der Tiefe ist einzig Liebe. Wenn wir lieben, erleben wir das Wesentliche des Lebens, erleben wir, dass es genau darum geht: zu lieben – weil die Liebe das Wesentliche ist. In diesem Erleben des Wesentlichen wissen wir, ohne darüber reflektieren zu müssen, wo es mit uns hingehen soll, wie wir unser Leben gestalten sollten. Wir spüren Sinn.

Bei unserem letzten Gebet am Donnerstag wurde ein Text von Dorothee Sölle vorgelesen. Sie zitiert Luther, der Gott einen Backofen voll Liebe nennt. Das ist ein schönes Bild. Von allen Seiten strahlt Liebe von ihm aus, wärmende Liebe, Liebe, die uns umfängt – so als würde Gott uns in seine Arme schließen. Als kleines Kind habe ich oft viele Stunden vor unserer Heizung gelegen oder gespielt. Menschen brauchen diese Wärme – ob sie jung sind oder alt. Sie fühlen sich im Innersten warm, wenn sie die Wärme der Liebe spüren – und strahlen selbst Wärme aus. Sie spiegeln damit die Liebe Gottes und werden auf diese Weise selbst zu einem kleinen Backofen. Wenn ich mir überlege, an welche Menschen ich mich gern anschmiege, dann sind es immer Menschen, die entweder mich lieben oder die generell etwas lieben – sei es die Kunst, sei es Literatur, sei es ihren Beruf, was auch immer. Ein Mensch, der für etwas brennt, strahlt dieses innere Feuer nach außen aus und wirkt anziehend auf mich. Ich möchte in seiner Nähe sein und an seiner Liebe teilhaben. Ich möchte mich an diesem Backofen wärmen.

Dorothee Sölle schreibt, dass sie selbst oft nicht wusste, wo dieser Ofen steht, dieser Backofen voll Liebe. Ich finde ihn hingegen überall. Wenn wir uns dieses Backofens erst einmal bewusst sind, treten die Brüche der Wirklichkeit etwas in den Hintergrund. Sie werden nicht unsichtbar; sie bleiben relevant und dürfen nicht ignoriert werden. Aber sie verlieren ihre existentielle Schwere, weil die Wärme des göttlichen Backofens die Welt niemals so kalt werden lassen kann, dass diese Brüche absolut werden könnten. Die Gewissheit, dass die Wirklichkeit im Kern nicht gebrochen ist, sondern dass Liebe uns umarmt und wärmt, ist mir eine große Stütze in schweren Zeiten. Ich vermag daher auch dann, dieses Leben zu bejahen, wenn es an allen Ecken und Kanten bricht.

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Joh 6,37) lautete das Thema dieses Gebetes. Auch dies verspricht der göttliche Backofen. Wir dürfen Brüche haben. Und jeder Mensch hat Brüche, denn sonst würden wir dieser Wärme nicht bedürfen. Wir sehnen uns aber nach Gottes Liebe. Das zeigt sich in jeder Form von Liebe, die wir auf dieser Welt suchen und leben. Gottes Liebe scheint geradezu wegen unserer Brüche da zu sein. Das bedeutet nun nicht, dass Gott dem Menschen eine Art Freifahrtschein schenkt: ‚Du kannst sein, wie du willst. Mein Ofen ist auf jeden Fall da. Aus meiner Liebe wirst du nie herausfallen. Also brauchst du dich nicht groß anzustrengen.‘ So ist die Liebe nicht. Ein Backofen wärmt durch Feuer. In ihm steckt viel Energie und Ernst. In ihm steckt der höchste Anspruch, den man sich denken kann. Das erlebt jeder Mensch, der liebt. Der Geliebte ist ihm gerade nicht gleichgültig in dessen Sein und Tun. Aber wenn er bricht, dann legt die Liebe sich um diesen Bruch und versucht, ihn anzunehmen und zu verzeihen. Das schafft überhaupt nur die Liebe, weil sie das Göttlichste ist, was wir kennen.

Als wir am letzten Donnerstag das ‚Schritt für Schritt‘-Gebet zusammen gesprochen haben, hat sich für mich aus diesem Gedanken das Wesen einer glaubwürdigen Kirche angeschlossen: Sie ist offen für alle Menschen und nimmt sie mit ihren Brüchen an. Als Kirche Jesu Christi kann man sie nur so denken. Dann könnte auch sie ein Backofen werden. Ich weiß nicht, ob das noch möglich sein wird. Irgendetwas läuft schief, wenn ich das Wort ‚Priester‘ zuallererst mit ‚Missbrauch‘ assoziiere. Und doch – ich weiß, dass es anders gehen kann. Natürlich kann die Kirche insgesamt niemals ohne Brüche sein, aber ich habe eine Kirche erlebt, die offen ist und Menschen mit Brüchen annimmt. Ich habe einen Pastor erlebt, bei dem aus jedem Knopfloch Liebe für die Menschen seiner Gemeinde gestrahlt hat. Vielleicht sollten wir nicht immer in den allergrößten Kategorien denken. Eine einzelne Gemeinde, in der die Botschaft Jesu Christi glaubwürdig gelebt wird, ist auch Kirche. Warum also nicht auf dieser Ebene beginnen? Warum nicht selbst den liebevollen Umgang mit Brüchen leben?

Wenn das Gebet schließlich um Zuversicht bittet, während die Zukunft der Kirche düster erscheint, werde ich mir darüber bewusst, dass wir einen vertrauensvollen Blick in die Zukunft brauchen, um in dieser kranken Kirche zu bleiben. Ich spüre den wärmenden Backofen voll Liebe – sonst säße ich schon lange nicht mehr dort, in dieser Kirche. Diesem Backofen zu vertrauen, fällt mir nicht schwer. Ich kenne die Liebe; ich weiß vom Kern der Wirklichkeit. Mir ist die Liebe ganz vertraut. Ich erlebe die Tiefe, in die sie uns zieht – dahin, wo die Liebe selbst ist: das Wesentliche. Gott. Vertrautem können wir vertrauen.

Wir haben sehr viel in unserer Hand. Wir können uns wirklich bemühen, zu lieben, das Leben dadurch zu bejahen, an unseren eigenen Brüchen zu arbeiten und zu einem Backofen für andere zu werden. Hesse sagt aber, das Leben erfährt seinen Sinn durch die Liebe. Die Liebe zu leben, bedeutet auch immer, sich hinzugeben, sich an die Liebe auszuliefern. Darum dürfen wir Gottes Backofen niemals aus unserem Herzen verschwinden lassen. Es ist wichtig, dass wir lieben, aber es ist noch wesentlicher, dass wir geliebt werden. Denn ohne Gottes Liebe gäbe es unsere Liebesfähigkeit gar nicht. Wir sind ein Funke, der dem göttlichen Feuer entsprungen ist. Wir erhalten unsere ganze Energie aus dieser Quelle. Unser Lebenssinn ist letztlich ein Geschenk. Wenn wir Gott als das Wesentliche erkennen, uns zu ihm ziehen lassen, seine Liebe erleben, dann legen wir den wahren Grundstein für unsere eigene Liebe und für eine liebevolle Kirche.

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Out of Church: Warum ich aus der katholischen Kirche ausgetreten bin