Freunde

Dass man sich an alte Freundschaften erinnern sollte, wird mir bewusst, als ich am Ende des Jahres in der dunklen Kirche sitze und wie aus dem Nichts heraus die Klänge von „Auld Lang Syne“ den Raum erfüllen. Freunde sind das Fundament des Lebens. Ist man schon lange mit einem Menschen befreundet, weiß man, dass man sich auf ihn verlassen kann. Kann man es nicht, so ist er kein Freund. Fundament zu sein, gehört somit zu den Wesenseigenschaften eines Freundes. Während ich dem Lied zuhöre, denke ich an meine Freunde. Auch wenn sie gerade nicht neben mir sitzen, sind sie da. Sie sind in mir und tragen mich. Sie sind mein anderes Selbst, das immer mit mir verbunden ist. Ich halte mich an dieser Verbindung fest und gehe auf diese Weise gesichert durch mein Leben.

Mir kommt der Gedanke, dass es trotz dieser steten Verbundenheit sinnvoll ist, sich am Ende des Jahres an die eigenen Freunde zu erinnern. Auch lang bestehende Fundamente müssen in der Gegenwart stabilisiert werden. Sonst drohen sie, verloren zu gehen. Die Klänge von „Auld Lang Syne“ sind wehmütig und scheinen diesen Verlust in sich zu tragen. Umso wichtiger der Vers: „And there’s a hand, my trusty fiere, and gie’s a hand o’ thine“, also „Und hier ist meine Hand, mein treuer Freund, und schlag mit der Deinen ein“. Es braucht einen Anlass, an dem man sich bewusst wieder für diese Freundschaft entscheidet, an dem man sich den Wert der Verbindung ins Gedächtnis ruft, an dem man das Liebenswerte des anderen erneut in das eigene Herz lässt und ihm die Hand reicht. Das ist ein Augenblick der Tiefe, durch den das Fundamentale der Verbindung vor Augen tritt.

Das menschliche Leben läuft nicht auf sein Ende, sondern auf ein Ziel zu. Die Erinnerung soll daher nicht nur die Stabilisierung der Freundschaft in der Gegenwart anstoßen, sondern sie auf die Zukunft hin öffnen. Zur Erfüllung des eigenen Lebens kann kein Mensch allein gehen. Freunde sind Weggefährten, gehen Hand in Hand. Ein Freund ist aber auch jemand, mit dem man nicht nur sein Leben, sondern seine Ewigkeit teilen möchte. Diese ewige Relevanz der Freundschaft trifft mich existentiell, als die Melodie ausklingt. Während die letzten Schwingungen in die Höhe des Raumes ziehen, tritt der Kirchraum in den Vordergrund meines Bewusstseins. Ich sitze an einem Ort, der mich meine Verbindung zu Gott, der mich mein Unterwegssein hin zu seiner Ewigkeit besonders deutlich spüren lässt. Dadurch wird das Hören von „Auld Lang Syne“ fast zu einem mystischen Erlebnis. Jeder Ton trägt eine Sehnsucht in sich, die in den Himmel weist. Ich fahre still durch die Dunkelheit nach Hause, um das Erlebte noch etwas länger in mir zu tragen. Als ich Zuhause ankomme, schicke ich jedem meiner Freunde diese Melodie und meine zugeneigten Gedanken. Ich hoffe, dass sie weiterhin mit mir verbunden durch das Leben gehen und dessen unendliche Tiefe zusammen mit mir spüren werden.

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