Korn, das in die Erde

Leid, Sterben, Tod und das Böse sind Tatsachen, um die unsere Gedanken ein Leben lang kreisen, ohne sie jemals vollständig fassen zu können. Sie gehen an unsere Existenz, betreffen uns existentiell. Das Leben sollte eigentlich ganz anders sein, frei von Leid, Sterben, Tod und dem Bösen – so meinen wir. Wir können uns nicht damit abfinden. Zu tief scheint der Widerspruch zu dem, was unsere Existenz ersehnt.

In mein eigenes Kreisen hinein fällt das Lied „Korn, das in die Erde“. Dort heißt es: „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt. Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt. Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ Der Text verweist auf ein Gleichnis im Johannesevangelium, in dem Jesus sagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh, 12,24). Das Sterben ist hier die unverzichtbare Voraussetzung für die Entstehung neuen Lebens, ja, für die Vermehrung des Lebens. Ein Blick zurück auf den Liedtext zeigt mir, dass dies durch die Liebe vollbracht wird. Auch wenn sie tot scheint, ist sie nicht ausgelöscht. Sie lebt wieder auf und schenkt neues Leben.

Das lässt mich sofort an das Leben von Stefania Podgórska denken, über das ich vor einiger Zeit gelesen habe. Sie begann im Alter von 13 Jahren kurz vor der Invasion Polens durch die Deutschen im Jahre 1939, im Geschäft der jüdischen Familie Diamant zu arbeiten, und wurde herzlich in die Familie aufgenommen. Sie verliebte sich in einen der Söhne und war voller Gewissheit auf eine gemeinsame Zukunft. Als die Diamants Geschäft und Haus verlassen mussten, weil sie ins jüdische Ghetto verbannt wurden, sorgte Stefania weiter für sie, schmuggelte Essen und Kleidung ins Ghetto und riskierte dabei jedes Mal ihr Leben. Teile der Diamants wurden zu Zwangsarbeit verpflichtet, andere Teile in Vernichtungslager deportiert, ihr Verlobter wurde ermordet. 1942 stand plötzlich einer der anderen Söhne der Diamants vor Stefanias Tür und bat sie, ihn zu verstecken. Bis zur Befreiung der Stadt durch die sowjetische Armee im Sommer 1944 versteckte Stefania nicht nur diesen Sohn, sondern zwölf weitere Juden in einem engen Verschlag auf dem Dachboden. Selbst als über einen Zeitraum von acht Monaten zwei deutsche Krankenschwestern und ihre Nazi-Freunde in derselben Wohnung lebten, schaffte Stefania es, ihre Gruppe an versteckten Juden zu beschützen und zu versorgen. Sie leistete an sich Übermenschliches und hat trotz der ständigen Gefahr, das eigene Leben zu verlieren, niemals gehadert oder mit dem Gedanken des Aufgebens gespielt.

Für mich ist Stefania Podgórska ein Beispiel dafür, dass Liebe durch das Böse, durch Leiden, Sterben und Tod hindurchführen kann. Wir kennen alle die Verhältnisse in Europa, die während des Nationalsozialismus geherrscht haben. Ich muss nicht im Detail wiedergeben, wie sehr das Böse den Kontinent erobert hatte, wie viele Millionen Menschen dabei ihr Leben verloren, wie groß Angst und Leid waren. Und doch scheint gerade dies der Boden gewesen zu sein, auf dem Stefanias Liebe gekeimt hat und gewachsen ist. Hier ist wahre Menschlichkeit entstanden, die zum Tode Geweihte zu neuem Leben verholfen hat. Wenn mich jemand in Zukunft nach dem Wesen von Freundschaft fragen sollte, werde ich diese Geschichte erzählen.

Erscheint Ihnen das Leben von Stefania Podgórska zu weit weg? Ist der Nationalsozialismus zu lange her? Was hat er mit unserem heutigen Leben noch zu tun? Vor kurzem las ich einen Artikel über Sadako Sasaki, die 1955 an den Folgen der Verstrahlung Hiroshimas durch die Atombombe, die die Stadt im Sommer 1945 getroffen hatte, im Alter von zwölf Jahren starb. Sie war dabei, tausend Papierkraniche zu falten. Einer japanischen Legende zufolge wäre ihr dann ihr Wunsch nach Langlebigkeit erfüllt worden. Leider schaffte sie nur 644 Kraniche. Ihre Mitschüler falteten die restlichen an ihrer Stelle. 1958 wurde ein Denkmal für sie im Friedenspark von Hiroshima errichtet. Auch das ist lange her, aber noch heute reisen Menschen dorthin, um Zeichen für den Frieden zu setzen. Beispielsweise hat einer meiner Studenten über ein Jahr lang tausend bunte Kraniche gefaltet und die so entstandenen Regenbogengirlanden im Friedenspark aufgehängt. Unzählige Kraniche findet man dort, unzählige Keime der Liebe, die aus dem verstrahlten Boden dringen und uns in ihrer unübersehbaren Buntheit daran erinnern, dass weder das Böse noch der Tod jemals das letzte Wort haben werden.

Wenn wir jedes Jahr aufs Neue Ostern feiern, so ist das eine Erinnerung daran, dass wir in den existentiellen Zeiten unseres Lebens, in denen wir von Leid umgeben sind, in denen das Böse uns klein macht, in denen wir geliebte Menschen verlieren oder mit dem eigenen Tod konfrontiert werden, nicht verzweifeln müssen. Auch über Gottes Liebe hat die Welt den Stab gebrochen. Sie hat Jesus, der diese Liebe gelebt und verkündet hat, gekreuzigt und einen schweren Felsen vor sein Grab gewälzt. Alles schien zu Ende zu sein, die Liebe für immer vernichtet. Aber die Liebe lässt sich nicht auslöschen, weil sie das Wesen Gottes ist. Sie trägt das Leben in seine Ewigkeit. Angesichts der Geschichte von Stefania Podgórska scheint es mir selbst etwas wenig zu sein, die Auferstehung des Lebens lediglich jährlich zu feiern. Warum Stefania nicht als Vorbild nehmen und selbst dazu beitragen, die Liebe durch den Tod zu tragen? Ich lerne gerade, bunte Papierkraniche zu falten. Das ist ein erster Schritt, die Macht des Bösen, des Leidens und Sterbens nicht anzuerkennen, sondern sie zu entmachten. Ich kann an jedem Tag ein Zeichen für den Frieden und für das Leben setzen. Dadurch gebe ich meiner Sehnsucht nach Liebe Raum und schaffe selbst Auferstehung.

Frohe Ostern!

Noch etwas struppig, aber auf jeden Fall schon mit Herz!

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Stellungnahme Thomas Laufmöller

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Herr, Du schenkst mir Würde