Herr, Du schenkst mir Würde

Gerade habe ich sie endlich gefunden – meine einzige Aufnahme unseres Gesanges von „Herr, Du schenkst mir Würde“ – und sofort hat sich mein Herz geöffnet. Die einfache Melodie wirkt jedes Mal erhebend auf mich. „Herr, Du schenkst mir Würde, wenn Du eingehst unter mein Dach, und so sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund, meine Seele wird gesund“, heißt es. Wenn das Wort „Seele“ zum zweiten Mal gesungen wird, erreicht die Melodie ihren höchsten Ton und zieht meine Seele mit sich. Eigentlich wird schon „Wort“ auf derselben Höhe gesungen, aber „Seele“ hat die doppelte Länge und daher mehr Kraft. Es ist natürlich kein Zufall, dass „Wort“ und „Seele“ miteinander korrespondieren. Meine Seele wird dadurch gesund, dass das Wort Gottes sich an mich wendet, sich mir zuwendet. Von ihm geht alle Kraft aus. Ich empfange das Heil von ihm.

Ich bin sehr glücklich, dass ich eine Aufnahme unseres Gesanges besitze. Die Stephanusgemeinde hat dieses Lied früher bei jeder Eucharistiefeier gesungen, bevor die Kommunion ausgeteilt wurde. Schon bei meinem ersten Besuch eines Gottesdienstes dort haben mir die Worte ein völlig neues Lebens- und Glaubensgefühl mitgegeben. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich immer nur „Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach…“ gebetet. Seit meiner Geburt wurde mir vor dem Höhepunkt jeder Eucharistiefeier vermittelt, dass ich eigentlich unwürdig bin, an ihr teilzunehmen. So wurde aus der Feier gewissermaßen ein Trauerspiel. Ich war nicht würdig, kein Mensch im Raum war würdig und wir alle haben dies mit gesenktem Haupt bezeugt. Was kann das Geschenk der Eucharistie dann noch bei einem Menschen bewirken?

Die Kommunion ist ein gemeinschaftliches Empfangen der Liebe Gottes und damit des Lebens. Sie ist ein In-Gemeinschaft-Treten mit ihm, das durch seine Liebe ermöglicht wird. Sie ist eine Feier, die dem Menschen Göttliches schenkt, die ihn in die göttliche Liebe mit hineinnimmt und somit Erfüllung eröffnet. Das gemurmelte Zeugnis der eigenen Unwürdigkeit lässt Herzen hingegen schrumpfen, legt den Fokus auf die Sündhaftigkeit des Menschen, darauf, dass er grundsätzlich hinter dem Erwarteten und Möglichen zurückbleibt. Zum Leben findet er danach kaum.

Die Worte „Herr, ich bin nicht würdig“ gehen u.a. zurück auf eine Geschichte im Lukasevangelium. Jesus kommt nach Kafarnaum, wo ein Hauptmann lebt, dessen geliebter Diener schwer erkrankt ist. Als der Hauptmann von Jesus hört, schickt er einige jüdische Ortsvorsteher zu ihm, um um seine heilende Hilfe zu bitten. Weil der Hauptmann kein Jude ist, lässt er Jesus ausrichten, dass er es als Nicht-Jude nicht wert ist, dass Jesus als Jude sein Haus betritt. Gleichzeitig drückt er sein Vertrauen in Jesus und in dessen heilende Kräfte aus: „Sprich nur ein Wort, dann muss mein Diener gesund werden“. Das Zeugnis des eigenen Nichtwertseins geht also auf gesellschaftliche Konventionen der damaligen Zeit zurück. Es ist aber nicht die entscheidende Haltung. Die entscheidende Haltung des Hauptmanns ist das Vertrauen in die heilenden Worte Jesu. Für mich ist noch entscheidender, dass der Diener in dem Moment auch schon geheilt ist. Jesus erkennt das Vertrauen des Hauptmanns und schenkt ihm die Würde, die er sich selbst genommen hat, sofort zurück.

Wenn ich etwas in die theologische Tiefe hineindenke, so kommen folgende Gedanken an die Oberfläche: Jeder Mensch besitzt eine Würde, weil er lebt. Zu leben, bedeutet, von Gott gewollt, bejaht, geliebt und darum in der Wirklichkeit gehalten zu werden. Gott schenkt dem Menschen dessen Würde also schon durch die Tatsache, dass dieser lebt und somit eine geliebte Wirklichkeit ist. Diese Würde kann sich der Mensch nur selbst nehmen, indem er sich aus der Liebe herauslebt, indem er gegen die Liebe lebt. Der Hauptmann ist aber die ganze Zeit in der Liebe. Er liebt seinen Diener, um den er sich nun, da dieser todkrank ist, sorgt. Er bittet jemanden um Hilfe, auch wenn er meint, er sei dieser Hilfe nicht wert. Er macht dies für seinen Diener; er zeigt seine eigene Hilflosigkeit und Bedürftigkeit. Kein Stolz hält ihn davon ab, Hilfe für seinen Diener zu finden. Er liebt das jüdische Volk und hat ihm eine Synagoge gebaut. Und schließlich schenkt er Jesus sein Herz, indem er auf dessen Hilfe vertraut. Wenn Jesus ihm nun entgegenkommt, weist er eigentlich nur darauf hin, dass der Hauptmann bereits in der Liebe ist und damit niemals würdelos sein kann. Jesus zeigt ihm, dass er der Würde, die ihm von Gott in jedem Moment des Lebens, d.h. des Im-Leben-Haltens, geschenkt wird, würdig geworden ist. Das ist schon das, was Heil letztlich bedeutet: in der ewigen Liebe Gottes zu sein und zu bleiben. Und darum wird der Diener gesund.

Für mich ist die Eucharistie die wöchentliche Erinnerung daran, dass Gott mir seine Liebe und sein Leben schenkt, dass er mir also meine Würde schenkt, weil er mich als etwas Liebenswertes betrachtet und mich darum für ewig in der Wirklichkeit halten möchte. Das ist eine wahrhaft frohe Botschaft, der ich gern singend mit den Worten „Herr, Du schenkst mir Würde“ entgegentrete. Dadurch gehe ich mit offenem Herzen auf das Geschenk zu, das mir zuteil werden möchte. Dies mit allen anderen Menschen in St. Stephanus zusammen zu machen, hat mir früher immer deutlich gemacht, dass wir eine Gemeinde sind. Dies war für mich unser Wesensmerkmal. So haben wir zusammen unsere Gottesbeziehung gelebt und dadurch eine neue Sicht auf uns selbst und auf das eucharistische Geschenk gewonnen.

Heute erlebe ich diesen Gesang nur noch selten in Gottesdiensten. Meist muss ich meine eigenen Worte gegen die traditionellen Worte der Gemeinde sprechen. Ich bin außerstande, die Worte „Herr, ich bin nicht würdig“ mitzureden, sondern konzentriere mich darauf, bei meinem Dagegensprechen nicht aus dem Konzept zu geraten. Mein Innerstes zieht sich bereits beim Hören der traditionellen Worte zusammen. Der Verlust ist groß. „Wie wenig braucht‘s, um Herzen zu verrenken“, stellt Jupiter Jones in „Auf das Leben!“ fest. Ich fühle mich nirgendwo mehr als Teil einer Gemeinde, ja, sogar im Grunde nicht mehr als Teil der Kirche. Ich frage mich, warum die Kirche an diesen Worten festhält, warum sie sich dagegen wehrt, die Menschen aufzurichten. Warum bin ich in den Augen der Kirche unwürdig?

Aber es gibt sie noch vereinzelt, diese Gottesdienste — hier und da. Wann immer ich sie erlebe, wirkt die Melodie, wirken die Worte wie eine Befreiung auf mich. Man muss sie einfach singen. Dadurch verstärkt sich ihre frohe Botschaft, dadurch öffnet sich mein Herz noch weiter, dadurch werden die Gottesdienste zu wirklichen Feiern. Ich gehe mit einer ganz anderen Haltung zur Kommunion und spüre, was Gottes Liebe wirklich bedeutet. Weil diese Gottesdienste so rar in meinem Leben geworden sind, sind sie nun kostbarer denn je für mich. Ganz verlieren kann ich das alles natürlich nicht mehr. Aber es tut auch gut, es hin und wieder neu zu erleben. Danke dafür.

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Die “heilige” katholische Kirche