Warum ich noch in der katholischen Kirche bin

Als ich in der neunten Klasse war, habe ich entschieden, mich vom Religionsunterricht abzumelden. Das lag vor allem an meiner Religionslehrerin und ihrer Art, die Inhalte anzusprechen. Mir hat die Teilnahme einfach nicht mehr gutgetan. Sehr überrascht war ich, als mir der Schulrektor mitteilte, dass er meine Abmeldung unter diesen Umständen nicht annehmen könne. Den Religionsunterricht könne ich nur aus Gewissensgründen abwählen – mit anderen Worten: wenn ich nicht mehr glaube.

30 Jahre später stehe ich vor einem ähnlichen Problem. Ich gehöre zu einer Kirche, deren Personal mir mehr und mehr zu schaffen macht. Ständig wird ein neuer Missbrauchsskandal aufgedeckt – Vertuschung, fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu tragen, und Lügen ziehen sich bis hoch zum Papst. Queere Menschen, die für die Kirche arbeiten, bangen um ihre Arbeitsstelle, vor allem, wenn sie in einer Partnerschaft leben, die dem Ideal der katholischen Kirche nicht entspricht. Von den persönlichen Erfahrungen unserer Gemeinde mit der Bistumsleitung will ich gar nicht anfangen. Gleichzeitig musste ich es über lange Zeit aushalten, dass Priester der Gemeinschaft Emmanuel mit ihrer konservativen Theologie und Liturgie die Gottesdienste in unserer Pfarrei überschwemmt haben. Jeden Tag drängt sich daher bei mir von Neuem der Gedanke auf, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Ich kann solch eine Kirche nicht mehr mittragen. Aber ich glaube noch. Austreten dürfte ich nur, wenn ich nicht mehr glauben kann. Oder?

In meiner Kindheit bin ich fast jeden Samstagabend mit meinen Großeltern in den Gottesdienst gegangen. Ich saß zwischen den beiden, war still und aufmerksam, mochte am liebsten den Moment der Wandlung, weil dort die Glöckchen erklangen. Ich habe mich sehr wohl und aufgehoben gefühlt. Der Mantel meiner Oma roch nach Tosca. Mein Opa roch nach Eukalyptus. Das sind Heimatgerüche. Ich sitze noch heute gern still in Kirchen, wo immer ich auch eine finde auf der Welt. Ich sauge die Atmosphäre in mich auf, die nur bei Stille erfahrbar ist. Ich habe es gern, wenn ein Hauch von Weihrauch in der Luft hängt oder wenn ich rieche, dass Kerzen gebrannt haben und ausgeblasen wurden. Ich muss nicht beim Gottesdienst dabei gewesen sein. Allein diese beiden Gerüche verweisen auf Riten, die mit Gott verbunden sind. Mit geschlossenen Augen spüre ich die Energie. Der Raum ist gestimmt. Ich nehme in Stein gemeißelten Glauben wahr. Der Glaube, der hier über viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte gelebt wurde, hat den Kirchraum zu einem sakralen Ort gemacht. Ich tauche ein und fühle mich als Teil dieser Tradition. Ein Gefühl von Heimat durchströmt mich.

Unwillkürlich muss ich an unseren Kirchraum St. Stephanus denken, wo mir immer noch negative Energie entgegenkommt. Ich fürchte, sie wird diesen Ort auch nie mehr verlassen. Wenn ich ihn betrete, dann weil ich eine Aufgabe habe, aber nicht so sehr, weil ich mich aufgehoben fühlen möchte in der Gemeinschaft der Gläubigen der katholischen Kirche. Es drängt sich natürlich sofort die Frage bei mir auf, ob ein Heimatempfinden ein kindliches Phänomen und eine rein nostalgische Sehnsucht ist. Bleibe ich in der Kirche, um weiterhin zu empfinden, was in der Kindheit zentral war? Muss ich mich aber damit abfinden, dass ich längst erwachsen bin und die Kirche kein paradiesischer Ort ist, sondern eine Struktur, die auch zerstörerisch und verbrecherisch ist?

Kaum habe ich mir diese Fragen gestellt, fallen mir zwei Gedanken der Schriftstellerin Astrid Lindgren in die Hand. Der erste lautet: „Die Kirche aber – darüber lächelt Gott jeden Tag“. Das ist noch sehr freundlich ausgedrückt oder? Der zweite Gedanke ist mir umso wichtiger. Er stammt aus dem Gesprächsbuch „Das Paradies der Kinder“: Wer solch ein Paradies in seiner Kindheit erlebt hat, also wirklich Kind sein durfte, erwirbt einen unerschöpflichen Schatz an stärkenden Erinnerungen, Vertrauen und Hoffnung. Bin ich daher noch in der Kirche – weil mich immer noch die Kraft trägt, die ich in der Kindheit geschöpft habe und die stärker ist als die Wucht, mit der jeden Tag die Missstände dieser Kirche auf mich einschlagen?

Stelle ich mir vor, dass ich aus der Kirche austrete, dann spüre ich bereits jetzt, dass dadurch ein Teil meiner Identität verloren ginge. Ich bin katholisch – schon immer gewesen. Es ist ähnlich wie bei meiner Muttersprache. Ich kann meine Muttersprache nicht wegdefinieren und auch nicht aufgeben. Selbst wenn ich sie nicht mehr sprechen würde, bliebe sie meine Muttersprache. Sie gehört zu mir und meinem Wesen. So auch bei meinem Katholischsein. Ich nehme die Wirklichkeit immer mit religiösen Augen wahr, kann gar nicht anders. Für mich hat alles einen transzendenten Bezug und eine eschatologische Ausrichtung. Nun könnte man einwenden, dass ich diese Art, die Wirklichkeit zu erleben, durch einen Kirchenaustritt nicht verlieren würde. Das mag sein. Aber ich hätte diese Muttersprache, mit der ich alles erlebe, ohne mein Katholischsein wahrscheinlich nie gelernt, wäre nie in eine Tradition eingebunden gewesen, die mir das vorgelebt und vermittelt hätte. Ich habe daher kein gutes Gefühl, wenn ich diese Tradition nun bewusst verlasse, weil mir das Personal in den oberen Etagen unerträglich und die Struktur dieser Kirche unhaltbar ist.

Was soll ich mit dieser Kirche machen? Vielleicht ist diese Frage bereits der richtige Ansatz. Wenn ich mit dieser Kirche derart unzufrieden bin, dass ich sie kaum mehr aushalten kann, dann bleibt mir immer noch die Möglichkeit, sie umzugestalten. Ich kann versuchen, mich möglichst weitgehend außerhalb der kirchlichen Strukturen zu bewegen und dann die Dinge umzusetzen, die mir wichtig sind. In St. Stephanus haben wir nicht erst seit der Abberufung von Thomas Laufmöller viel selbst auf die Beine gestellt und möchten dies weiterhin tun. Wenn ich hingegen darauf warte, dass sich die Kirche so ändert, dass sie mir zum Paradies wird, werde ich umsonst warten und jeden Tag unzufriedener werden. Das bedeutet nicht, dass ich diejenigen in der Kirchenleitung, die sich in den letzten Jahrzehnten schuldig gemacht haben, aus der Verantwortung lassen möchte. Das ganz sicher nicht. Ich erwarte von einem Papst, der sich der Wahrheit verpflichtet hat, dass er sich zu seinen Lügen bekennt. Ich erwarte von jedem, der in die Vertuschung eines Missbrauchsfalles verwickelt ist, dies zuzugeben und alles dafür zu tun, dass den Opfern Gerechtigkeit zukommt. Ich erwarte, dass das kirchliche Arbeitsrecht verändert wird. Menschen, die für die katholische Kirche arbeiten, dürfen nicht mehr länger aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Lebensstandes unter Druck gesetzt werden. Einen Satz wie: „Man hat mit Ihrer Angst gespielt.“ (Thomas Schüller) möchte ich nicht mehr hören. All dies kann die Kirche umsetzen – so es ihre Oberen wollen.

Und wenn das alles nicht passiert, überlege ich jeden Tag wieder, ob ich noch in dieser Kirche bleiben kann. Aus einer Predigt von Pastor Hubertus Krampe vom letzten Sonntag ist mir vor allem ein Satz im Gedächtnis geblieben: „Ich möchte diese Kirche nicht den Tätern und den Radikalen überlassen“. Man mag gerade den Eindruck bekommen, als wären alle Priester Missbrauchstäter, Lügner, Vertuscher, Systemuntergebene. Aber das ist nicht der Fall. Egal, in welcher Gemeinde ich in letzter Zeit Gottesdienste besucht habe, die Pastöre haben mir immer aus dem Herzen gesprochen und waren genau wie ich an großen Veränderungen interessiert. Wer einen gesunden Menschenverstand und das Herz auf dem rechten Fleck hat, spürt, dass dieses System krank ist, dass es voller Doppelmoral steckt, dass es sich weit von der Kirche Jesu Christi entfernt hat. Fehler begeht jeder Mensch. Wenn er sie zugibt, eröffnet dies Verzeihung und einen Neuanfang.

Wenn ich ganz ehrlich bin, so muss ich zugeben, dass ich mich außerdem ein bisschen an die Krawallschachteln aus meiner Gemeinde St. Stephanus 2.0 gewöhnt habe. Wir haben ziemlich viel zusammen durchgemacht. Wäre schade, wenn wir nicht mehr gemeinsam durch unser Glaubensleben gehen würden. ♥

Ich bin also noch in der Kirche und morgen wahrscheinlich auch. Wenn ich mir vorstelle, dass im Taufregister meiner Heimatgemeinde der Vermerk hinzugefügt würde, dass ich an dem und dem Datum ausgetreten bin, so macht mich diese Vorstellung traurig. Sollte in hundert Jahren ein Nachfahre von mir zwecks Ahnenforschung in diesem Taufregister den Vermerk finden, würde er wahrscheinlich denken, dass ich zur Atheistin geworden bin. Ich sehe ein, dass dies ein vollkommen sentimentaler Grund ist, in der Kirche zu bleiben. Aber es ist ein Grund. Ich gehöre zur katholischen Kirche, weil Gott mir meine Wirklichkeit schenkt und ich dies ohne die Tradition vielleicht nicht so deutlich erfahren und verstanden hätte. Das lässt sich nicht aus mir herausoperieren. Nun möchte ich dies in Liebe und Wahrhaftigkeit an die Menschen weitergeben.

Mein Kommunionkreuz

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Out of Church: Warum ich aus der katholischen Kirche ausgetreten bin

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Für eine Kirche ohne Angst…