Gemeinsam

In den sieben Monaten, in denen die Gemeinde St. Stephanus ohne Seelsorger gewesen ist, hat sie Woche für Woche um das Überleben gekämpft. Ich übertreibe in meiner Wortwahl nicht. Das Bistum hat alles dafür getan, um einen Leuchtturm zu zerstören. Wer zu hell leuchtet, setzt ein Maß, das man nicht mit Bequemlichkeit erreichen kann. Das geht nur durch den Einsatz von vielen Menschen, durch die wachsende Freude, die dabei entsteht, durch die Zusammengehörigkeit, die erzeugt wird, durch echte Verbundenheit. Was für uns gar nicht hell genug sein konnte, war zu hell für die Bistumsleitung. Hinterlassen hat sie Scherben, über die wir seitdem barfuß zu gehen versuchen. Wir sind sieben Monate lang trotzdem gegangen, auch wenn es kaum einer mehr vertreten konnte, Teil dieser Kirche zu bleiben. Wann immer wir zusammengekommen sind, haben wir dasselbe Lied gesungen:

„Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst: Niemand ist da, der mir die Hände reicht.
Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst: Niemand ist da, der mit mir Wege geht.“

Auch heute haben wir dieses Lied gesungen, als wir erneut alle zusammengekommen sind. An diesem Wochenende ist es ein Jahr her, dass unserer Gemeinde mitgeteilt wurde, dass unser Pastor Thomas Laufmöller abberufen wird. Nicht nur für ihn bedeutet das seitdem eine menschliche Katastrophe. Heute haben wir unserem Pastor ein Dankesgeschenk gemacht. Und als erstes haben wir „Keinen Tag soll es geben“ zusammen gesungen. Das ist immer sein Lied für besondere Anlässe gewesen. Wenn ein Paar geheiratet hat, hat er den beiden die Gedanken aus diesem Lied mit auf den Weg gegeben. Er hat seine Hände auf die Köpfe der beiden gelegt, hat ganz allein dieses Lied gesungen, hat den Segen Gottes in sie hineinfließen lassen. Jedes Mal waren das besondere, zärtliche, tiefe Augenblicke. Als Thomas Laufmöller im März gehen musste, hat er dieses Lied zum letzten Mal vor seiner Gemeinde in St. Stephanus gesungen. Dieses Mal ohne Segen. Die Traurigkeit war zu überwältigend. Wann immer wir dieses Lied in den letzten sieben Monaten in seiner Erinnerung gesungen haben, haben wir einander die Hände gereicht, um uns darin zu bestärken, miteinander weiter einen Weg zu gehen – wenn auch barfuß über Scherben. Heute haben wir Thomas Laufmöller nicht allein singen lassen, sondern wir haben ihn mit unserem Gesang in unsere Mitte geholt. Es fehlte immer noch der Segen. Es war immer noch schwer. Aber wir sind zusammen und stehen diese Katastrophe gemeinsam durch.

Bilder aus 17 Jahren Gemeindeleben ziehen auf einer großen Leinwand an uns vorbei. Unser Fotograf für alle Fälle hat jedes Fest dokumentiert, jeden besonderen Moment festgehalten, jede Facette von Thomas Laufmöller eingefangen. Immer ist unser Pastor mittendrin gewesen. Fröhlichkeit und Hingabe strahlen mir von der Leinwand entgegen. Ich erkenne nicht zum ersten Mal, dass hier ein Mensch seine Berufung gefunden hat. Besonders sein wahrhaftiger, behutsamer Umgang mit den Kindern berührt mich. Ich muss durchatmen, weil ich nicht verstehen kann, wieso die Bistumsleitung die Berufung dieses Menschen zerstören wollte. 17 Jahre – so viele Menschen in dieser lebendigen Gemeinde, viele von ihnen bereits verstorben. Diese Verdichtung des gemeinsam Erlebten stärkt mich aber auch wieder in der Überzeugung, dem Bistum in seiner Zerstörungskraft entgegenzutreten. Uns bekommt Ihr nicht, denke ich.

Als Thomas Laufmöller uns erzählt, wie es ihm geht und welche Bilder der Erinnerung er mitnehmen wird, spüre ich, dass auch nach einem Jahr nichts abgeschlossen ist. Als er zugibt, froh zu sein, sehr lange eine Nische innegehabt zu haben, in der er seiner Berufung und seiner Art der Seelsorge nachkommen konnte, erinnere ich mich an Worte von Christiane Florin:

„Ich habe hier meinen kleinen Freiraum, da kann ich viel Gutes gestalten. In autoritären Regimen braucht der Mensch Nischen. In freiheitlichen sind Freiräume die Regel, nicht die erwähnenswerte Ausnahme.“

Solange die Kirche ein solch autoritäres Regime bleibt, das mit Menschen umgeht, als wären sie Dinge, kann niemals etwas abgeschlossen sein, kann nicht einfach nach vorn geschaut werden, kann erst recht keine Heilung geschehen. Das Bistum hat Thomas Laufmöller und jedem Mitglied unserer Gemeinde das Licht geraubt. Wer nicht auf Herzenshöhe mit anderen Menschen umgehen und kommunizieren kann, darf sich nicht Verkünder der Botschaft Christi nennen. Wir müssen das nun tragen und wir tragen das gemeinsam. Gewachsene Beziehungen lassen sich nicht einfach kappen.

Als Thomas Laufmöller erzählt, wie vor Jahren in einem Firmgottesdienst die Geistsendung dargestellt wurde, wird deutlich, worum es uns in der Zukunft gehen muss. Damals hingen lange bunte Tücher vom Dach des Kircheninnenraumes. Sie fielen plötzlich alle herab und wurden von den Firmlingen aufgefangen. Die Kraft Gottes kommt von oben, vom Himmel. Die Firmlinge waren eingeladen, den Geist Gottes aufzufangen und in sich einfließen zu lassen. Dann legten sie die Tücher über die Köpfe der Menschen in den Bänken, um die Liebe, die dieser Geist wesentlich ist, und die Freude am eigenen Glauben an die Welt weiterzugeben.

Glaube lebt von Beziehung, von liebender Beziehung. „Für Euch war ich mit Leidenschaft Pastor, mit Euch bin ich Christ und bleibe mit Euch in treuer Freundschaft verbunden“, verspricht Thomas Laufmöller uns daher. Wenn ein Mensch Hilfe braucht und darum bittet, schenkt ein Christ ihm Hilfe. Selbst wenn der Bischof viel Macht über uns hat und diese auch ausübt, kann er unserer Verbundenheit die Geborgenheit und das Heimatgefühl nicht rauben.

Zu tief liegen unsere gemeinsamen Erinnerungen. Das merke ich vor allem in der Laudatio. Ich höre vom blühenden Leben, das sich in den 17 Jahren, in denen Thomas Laufmöller Pastor in St. Stephanus war, entwickelt hat, von der einmalig hohen Zahl an Gottesdienstbesuchern aller Altersklassen, von der Vergrößerung der Zahl ehrenamtlich Arbeitender. Drei Schleifen sind um unser Dankesgeschenk geschlungen. Eine dieser Schleifen steht für das, was wir nicht verschenken: unsere Erinnerung. Sie ist unser kostbarer Schatz und hält diese wunderbare gemeinsame Zeit in unseren Herzen. Unzählige Bilder, unzählige Erlebnisse kommen hoch. Mich trifft es vor allem, als die Stimme unseres Pastors genannt wird, die das Hochgebet an Festtagen gesungen hat, die, während er neben dem Sarg eines Verstorbenen stand, die Engel dazu aufrief, den Weg zum Paradies zu begleiten. Was wir in diesen 17 Jahren gemeinsam geteilt haben – all diese ehrlichen Augenblicke, in denen es existentiell wurde –, zeigt, warum wir ein so starkes Fundament besitzen.

Wie wird es nun weitergehen? Die Scherben sind eine Realität und es muss mit ihnen umgegangen werden. Die Bistumsleitung muss mit den Folgen ihres Handelns konfrontiert werden, muss wissen, dass nichts jemals das rechtfertigen wird, was geschehen ist. Mir ist es wichtig, dass wir nicht aufgeben, sondern uns dabei gegenseitig tragen und nicht im Stich lassen. Mir ist es wichtig, dass wir für Thomas Laufmöller da sind und ihm Heimat bieten. Ein Gedicht von Rose Ausländer fasst dies für mich zusammen:

Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

Diese Gedanken finden sich auch in den Segensworten wieder, die Thomas Laufmöller zum Abschluss unserer Begegnung spricht:

„Herr Jesus Christus, Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Leben entsteht, wo Deine Wahrheit gelebt wird. Leben entsteht, wo man auf Deinen Wegen der Liebe geht. Mache uns immer wieder neu bereit, auf dem Weg der Wahrheit zu gehen, und stärke uns auf diesem Weg durch Deinen guten Segen.“

Einen klaren Blick brauchen wir alle für diesen Weg. Ein liebendes Herz brauchen wir dafür. Wir brauchen sicher auch den Mut, etwas dafür zu riskieren. Aber solange wir diesen Weg gemeinsam gehen, bleiben wir dabei eine Gemeinde.

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