Hallelujah

Ich war beim letzten öffentlichen Gottesdienst von Thomas Laufmöller in St. Agatha etwas überrascht, als plötzlich das „Hallelujah“ von Leonard Cohen von der Orgelempore erklang. Ich erinnerte mich sofort an seinen Abschiedsgottesdienst zweieinhalb Jahre zuvor in St. Stephanus. Auch damals lief das Lied. Seltsamerweise waren es in beiden Fällen Augenblicke, in denen Liebe verschenkt wurde. Das erste Mal hatten alle Gottesdienstbesucher eine Blume in der Hand und gingen nach und nach zu Thomas Laufmöller nach vorn, um sich mit diesem Zeichen bei ihm für die gemeinsamen Jahre zu bedanken. Dazu sang Cohen seine Worte. Beim zweiten Mal war es nur die Melodie seines Liedes, die die Austeilung der Kommunion, des Gegenwärtigwerdens von Gottes Liebe, begleitete. Trotzdem hat mich dieser Zusammenfall berührt.

Dieses Lied und die Liebe – was will mir der Zusammenfall sagen? Ich schaue auf den ursprünglichen Text von Cohen und merke recht schnell, dass es um Entmachtung geht. In der zweiten Strophe ist es vor allem eine Frau, die einen Mann entmachtet. Cohen baut biblische Verweise ein: auf Batseba und David, auf Delilah und Samson. „Her beauty and the moonlight overthrew you“, heißt es. Batseba wirft David mit ihrer Schönheit um und bricht seine Macht. „She broke your throne“, singt Cohen und lässt den Verweis auf Delilah und Samson folgen. Jene schneidet ihm das Haar, in dem all seine Kraft stecken soll. „And from your lips she drew the Hallelujah“, heißt es danach. Delilah nimmt Samson seine Kraft und entlockt seinen Lippen gleichzeitig das „Hallelujah“. Liebe ist kein Siegeszug, wie es später im Lied heißt. Liebe bedeutet, dass etwas mit einem geschieht, dass einem die Kontrolle genommen wird, dass man machtlos wird und sich hingibt. Und gerade das lässt ein „Hallelujah“ entstehen – ein Lobgesang auf Gott. Selbst er lässt sich in diesem Lied gewissermaßen entmachten. In der ersten Strophe singt Cohen: „Now I‘ve heard there was a secret chord that David played, and it pleased the Lord“. König David komponiert eine Melodie, die Melodie dieses Liedes, spielt sie und erfreut damit Gott. Auch er lässt sich bewegen.

Liebe, egal, in welcher Erscheinungsweise, ist das Geschenk der eigenen Wirklichkeit in all ihrer Nichtallmacht und Zerbrechlichkeit, lerne ich von Isabella Guanzini. Es gehört viel Mut für einen Menschen dazu, sich preiszugeben, sich verletzlich zu zeigen und in der Begegnung darauf zu vertrauen, dass der andere diese Verletzlichkeit nicht ausnutzt. Es gehört Mut dazu, darauf zu vertrauen, dass der andere die ihm eigene Zerbrechlichkeit erkennt und davon ausgehend mit Zärtlichkeit antwortet. Jeder Mensch ist verletzlich und zerbrechlich, wird von Musik, Schönheit, Tiefe berührt, hat Angst vor hässlichen Worten und Taten. Die Zärtlichkeit nimmt die Verletzlichkeit des anderen wahr, erkennt das allen gemeinsame Bedürfnis nach Liebe und antwortet darauf mit zärtlichen Gesten, die Schutz und liebevolle Fürsorge verstärken.

Liebe setzt also nicht auf Macht, sondern zeigt dem Menschen, wie er wirklich ist. Durch diesen Vorgang wird er authentisch, weil er zu seiner Verletzlichkeit steht. Liebe ist in ihrer Hingabefähigkeit gewissermaßen eine Selbstentmachtung oder Selbstentblößung durch die Begegnung mit dem anderen und geht in eins mit der Bitte nach Zärtlichkeit als Antwort. Jede Form von Gewalt ist fatal für die Verletzlichkeit des Menschen und für die Liebe im Allgemeinen. Erlebt der Mensch Gewalt, so verschließt sich sein Herz; die Offenheit für die Begegnung mit dem anderen wird zerstört. Nahbar ist der verletzliche Mensch nur, wenn ihm keine Gewalt geschieht. Die Allmacht Gottes besteht in der Unendlichkeit seiner Liebe, in ihrer unendlichen Macht, sich allen Menschen zu schenken und ihren verletzbaren Wesenskernen mit Zärtlichkeit zu begegnen. Sie kommt ohne Gewalt aus, liefert sich ihr im Extremfall sogar aus. Wenn ein Mensch dieses Geschenk erlebt, wenn er dabei zu seinem eigenen wahrhaftigen Wesen findet, so kann schon mal ein „Hallelujah“ aus seinem Munde kommen.

Ich frage mich vor diesem Hintergrund, warum ich in der Kirche, im Bistum und seit dem Rausschmiss von Thomas Laufmöller auch in der Gemeinde St. Stephanus so viel Machtausübung und Gewalt, statt diese Liebe erlebt habe oder erlebe. Wenn ich sehe, wie viele Kinder von Priestern missbraucht worden sind, denen man vertraut hat, wie diese Fälle zum großen Teil vertuscht wurden, um der Kirche, statt den Missbrauchten zu helfen, dann kommt nur Gewalt bei mir an. Wenn ich darüber nachdenke, mit welcher Härte verschiedene Verantwortliche des Bistums mit der Gemeinde St. Stephanus umgegangen sind, wie sie mit Druck ihre Macht haben spielen lassen, wie sie mit irreführenden Schlagzeilen die Leserschaft ihrer Nachrichten manipuliert haben, dann erkenne ich keinen Funken Liebe. Wenn ich an meine einzige Begegnung mit Bischof Felix Genn auf dem Kirchplatz von St. Stephanus denke, bei der er sich wie stets geweigert hat, auf unsere Fragen einzugehen, mit uns zu argumentieren, wenn ich mich stattdessen daran erinnere, wie er uns schließlich angeschrien hat, statt sich auf uns einzulassen und uns zu verstehen zu versuchen, dann fehlt mir die zärtliche Antwort.

Wenn ich mir die folgende Spaltung der Gemeinde ins Gedächtnis rufe, dann muss ich zugeben, dass ich hier zur unverständlichsten Stelle von allen gekommen bin. Wie kann es sein, dass einige wenige in der Gemeinde St. Stephanus, die das Geschehene verdrängen wollen, die diktatorischen Züge des Bistums übernommen haben, kritische Anmerkungen gegen Kirche, Bistum und Bischof zu unterbinden versuchen, die Freiheitsräume immer enger schnüren und damit jedem ehrenamtlichen Engagement die Freude, die Kreativität und die Zukunft nehmen? Wo sind der Zusammenhalt, die Freundschaft geblieben? Korrumpiert die Diktatur, wie Daniel Kehlmann sagt, tatsächlich fast jeden? Und hat Joachim Gauck recht, wenn er erklärt, dass Menschen selbst die absurdesten und lebenswidrigsten Zustände als Normalität rationalisieren, um in ihnen überleben zu können? Lassen sie deshalb all diese Gewalt zu, statt sich für die Liebe einzusetzen?

Wenn ich schließlich noch den aktuellsten Vorfall aufnehme, bei dem Thomas Laufmöller von seinem Arbeitgeber nicht nach seiner leidenschaftlichen Arbeit in der Friedensschule beurteilt, sondern an seiner fehlenden Bereitschaft zu Kadavergehorsam gemessen wurde, wenn dabei ohne mit der Wimper zu zucken das durch das deutsche Grundgesetz zugestandene Recht auf Freizügigkeit ignoriert wird, dann zerbricht mein Vertrauen in einen menschenwürdigen und liebevollen Umgang seitens des Bistums schon beim bloßen Zuschauen.

Gottesdienste bedeuten für mein Leben sehr viel. Ich bin keine von denen, die sich nicht mehr für den Glauben und die Kirche interessieren. Momente wie jene, als ich zum zweiten Mal das „Hallelujah“ gehört habe, beschäftigen mich über Tage oder Wochen. Ich möchte das alles nicht verlieren. Ich möchte Menschen, mit denen ich das zusammen erlebe oder die mir diese Erlebnisse schenken, nicht verlieren. Das ist alles zu wichtig für mein Leben, für das menschliche Leben im Allgemeinen, so denke ich. Aber ich möchte mich auch nicht von der kirchlichen Diktatur korrumpieren lassen. Mir sind meine persönliche Freiheit und Integrität zu entscheidend. Nach dem aktuellen Vorfall bin ich zu der Einsicht gekommen, dass sich gewisse Personen dieser Kirche durch ihr menschenverachtendes Verhalten, durch ihren Einsatz von Macht und Gewalt selbst aus derselben herausbewegt haben. Sie haben sich selbst disqualifiziert. Das ist eine befreiende Erkenntnis. Ich habe genug Menschen in den letzten Jahren getroffen, denen ich meine Wirklichkeit in all ihrer Nichtallmacht und Zerbrechlichkeit schenken kann, auf deren zärtliche Antwort ich vertrauen darf, mit denen ich zusammen Gemeinde und Kirche sein kann – völlig abseits von jeder korrumpierten und korrumpierenden Struktur. Ich habe fest vor, weiter auf die Liebe zu setzen und für Ungehorsam gegenüber allen Versuchen der Machtausübung einzutreten. Vielleicht ist dies der verborgene Akkord, der Gottes Herz zum Klingen bringt…?

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